How to trigger things with words

ASMR-Sprechakte auf der Musiktheaterbühne

 

Videos, die Autonomous Sensory Meridian Response, kurz: ASMR auslösen, gehören zu den populärsten Webinhalten überhaupt. Millionenfach werden Youtube Clips angeklickt, in denen Menschen zu sehen sind, die stundenlang mit flüsternder Stimme wispern, Papier oder Plastik zum Rascheln bringen, in aller Ruhe leise schmatzend einen Oktopus verspeisen, sich sorgfältig die Haare kämmen oder einfach nur bewusst ein- und ausatmen. Der Effekt, der sich bei der Rezeption solcher Bild-Ton-Sequenzen unwillkürlich einstellt, wird oft als kribbelndes, angenehm empfundenes Gefühl auf der Haut (sogenannte tingles) beschrieben.

Dieses zwischen wellness service und Popkultur changierende Internetphänomen fasziniert seit einiger Zeit auch Komponistinnen und Komponisten aus dem Einzugsbereich der Neuen Musik und zwar gleichermassen hinsichtlich Klangdesign und Wirkungsmechanismus. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, was passiert, wenn ASMR-Induktion vom digital space auf die zeitgenössische Musiktheaterbühne verlagert wird. Am Beispiel der Produktion Boote und Palmen (2021) von Johannes Werner wird diskutiert, welches Erfahrungs- und Bedeutungspotential Verfahren einer solchen Kontextverschiebung bergen und welchen künstlerischen Transformationen ASMR-Clips unterzogen werden, um dieses Potential auszuloten.

Einleitend wird der skizzenhafte Versuch einer kulturtheoretischen Einordnung des Phänomens ASMR unternommen. Seit John L. Austin wissen wir, dass etwas sagen immer auch «etwas tun» heisst; wodurch charakterisiert sich nun aber dieses «Tun» im Fall von ASMR-Sprechakten? Mit Bezug auf klassische Performance-Theorien wie auch neuere theaterwissenschaftliche Konzepte soll insbesondere der Schlüsselbegriff des «triggerns» und dessen performative Implikationen unter die Lupe genommen werden.

Im zweiten Vortragsteil rücken Schnittmengen zwischen ASMR-Design und ästhetischen Suchbewegungen im Bereich der Neuen Musik in den Fokus: So wird in beiden Kontexten unter anderem anhand von experimental vocal sounds erkundet, «how noise can become moving and meaningful» (Gallagher 2016). Welchen Einfluss ASMR-Videos auf performative Wirkungsabsichten zeitgenössischer Komponistinnen und Komponisten genommen hat, zeigt eine kurze diachrone Gegenüberstellung von einschlägigen Experimenten der Neo-Avantgarde aus den 60ern einerseits und der von Jennifer Walshe 2016 proklamierten New Discipline andererseits auf. Während Komponisten wie Dieter Schnebel mit der Dekonstruktion körperlicher Vorgänge beim Musizieren aufklärerische Absichten verfolgten, machen sich etwa Walshe oder Neele Hülcker in verschiedenen Performances spielerisch das ASMR-Servicekonzept einer Erzeugung von «pleasure through a distant intimacy» (Iossifidis 2017) zu eigen und bleiben dabei trotz mitunter sanft-ironischem Unterton der kommunikativen Logik des Plattformphänomens treu.

Im Hauptteil des Beitrags wird aufgezeigt, wie nun eine neue Generation von MusiktheatermacherInnen diese spielerische Haltung ostentativ aufgibt, ästhetische Hervorbringungen des Plattformkapitalismus’ vielmehr einer dekonstruierenden, ideologiekritischen Exegese mit musikdramaturgischen Mitteln unterzieht und sich damit angesichts eines sich ankündigenden postdigitalen Zeitalters vorausschauend positioniert. Welche kompositorischen, textlichen und inszenatorischen Strategien hierfür zum Einsatz kommen, wird exemplarisch an Johannes Werners Stück Boote und Palmen demonstriert.

 

 

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